Gestern habe ich eher zufällig die Leichtathletik-WM aus London im Fernsehen gesehen. Dazu muss man wissen, dass ich kein großer Sportfanatiker bin und mit der Mentalität vieler Spitzensportler nicht viel anfangen kann. Das sind bestimmt auch meine eigenen Vorurteile, aber ich sehe da immer nur den Leistungsdruck und die obsessive Verausgabung des eigenen Körpers.
Gestern aber, als ich die weiblichen Teilnehmerinnen der WM anschaute, sah ich plötzlich etwas anderes. Seit Monaten befinde ich mich auf einer Art feministischer Selbstsuche. Obwohl ich mich als Feministin bezeichne, seit ich mit diesem Begriff in Berührung gekommen bin, erlebe ich gerade eine persönliche Renaissance: ich durchleuchte die Ecken meines Lebens, die ich bisher vor mir selbst versteckt habe, versuche, eine neue Einstellung zu meiner Weiblichkeit zu entwickeln, und versuche, mit jedem Schritt etwas stärker und etwas unabhängiger zu werden. Denn die Wahrheit ist, dass Feministin sein, wie so vieles im Leben, nicht schwarz und weiß ist. Es gibt immer noch Situationen, in denen ich mich klein mache oder ignoriere, was ich eigentlich weiß. Das Aufwachsen in einer patriarchischen Kultur geht eben nicht spurlos an uns vorüber.
Vor diesem persönlichen Hintergrund sah ich die Leichtathletinnen in einem neuen Licht. Dort standen sie, konzentriert, muskulös, stark. Das sind Frauen, die von einem sehr frühen Zeitpunkt ihres Lebens an ihre gesamte Kraft und Energie in sich selbst und ihren Sport gesteckt haben. Zeit, die ihre Altersgenossinen in Sozialisierung und Teenagererfahrungen investiert haben, haben sie diesem einen Ziel geopfert. Sie mussten in ihrem Leben wahrscheinlich so einiges an sich vorüberziehen lassen, vielleicht erste Dates, vielleicht Partys, vielleicht sogar Abschlussbälle oder ganze Beziehungen. Und jetzt saß ich vorm Fernseher und konnte ihnen zusehen, an einem der wichtigsten Tage ihres Lebens, der, für den sie all das aufgegeben hatten, an ihrem Ziel.
Wir haben Respekt vor diesen Frauen, weil sie nicht in eine typischen Frauenrolle passen, und wie so oft, wenn wir Respekt vor Frauen haben, irritiert uns das, und wir suchen nach Wegen, sie doch auf ihr Geschlecht zu reduzieren. Wir reden davon, dass ihre Schultern zu breit sind, wir achten auf ihr Makeup, wir teilen sie ein in „attraktiv“ und „nicht attraktiv“, die Kommentatoren reden von ihrem Styling, in Interviews werden sie belächelt, wir können nicht viel mit ihnen anfangen, sie wirken zu eckig und zu männlich und zu – stark. Das Schöne an alldem ist, dass sie in diesen Momenten – wir können nichts darüber sagen, wie es abseits vom Wettbewerb ist – aber dass sie in diesen Momenten keinen Gedanken daran verschwenden, wie die Welt sie sieht. Es ist völlig egal, ob sie schön sind oder nicht, ob sie eine Beziehung führen oder nicht, sogar, ob sie eine Frau sind oder nicht. In diesem Moment sind sie nur auf das eine konzentriert: das Ziel.
Ich werde nie eine Spitzensportlerin sein und ich werde mich nie mit ihrem Leben identifizieren können, aber ich glaube, dass wir von ihnen lernen können. Wie oft habe ich schon den Mund gehalten, obwohl ich etwas zu sagen hatte, wie oft habe ich mich schon zurückgehalten, aus Angst, nicht ernst genommen zu werden, wie oft habe ich schon etwas unterlassen, weil ich wusste, dadurch weniger wie die perfekte, weibliche Frau wahrgenommen zu werden, die wir doch alle sein sollen. Dabei will und darf ich stark sein.
Wir brauchen solche Frauen, und sie sollen gesehen werden. Breite Frauen, schwarze Frauen, Frauen, die an sich glauben, die sich von gesellschaftlichen Erwartungen lösen und ihre eigenen schaffen. Junge Mädchen sollen sie sehen, um zu verstehen, was sie alles sein können. Und Jungen sollten sie sehen, um zu einer neuen, offeneren und selbstbewussteren Männergeneration zu werden, in deren Weltbild starke Frauen ein selbstverständlicher Bestandteil sind.
Wir alle brauchen starke Frauen. Die Sportlerinnen bei der WM machen es vor.